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8. Februar 2017

Fluch der Karibik in Tampico

- von Barbara van Benthem - 

Die „Legende vom Ozeanpianisten“ erzählt die Geschichte des kleinen Jungen Neunzehnhundert, der im Jahr seiner Namensgebung an Bord der „Virginian“ vom Heizer Danny Boodmann gefunden und in einer kuschelig schaukelnden Wiege inmitten des Maschinenraums liebevoll großgezogen wird. So liebevoll, dass sich Neunzehnhundert zeit seines Lebens nicht von seiner Heimat – dem Ozeandampfer – trennen mag, eine Weltkarriere als Jazzpianist in den Wind schlägt und die Liebe seines Lebens über die Gangway ziehen lässt, nur um an Bord zu bleiben, wo sein Zuhause ist – so friedlich familiär, wie er es sich dort draußen nicht besser wünschen könnte. Eine Idylle wie in einem Heimatfilm der Fünfzigerjahre mit Marianne Koch in der Hauptrolle, gäbe es nicht den großen Showdown, in dem Neunzehnhundert als letzter Passagier auf der „Virginian“ lieber den Tod durch Schiffsexplosion wählt, als vom echten Leben zu kosten.

Das Leben auf See muss so schön sein.

Oder auch nicht.

An Bord des Öltankers „Irma Schindler“ war etwa zur selben Zeit auf einer ganz ähnlichen Route die Hölle los. Die „Irma Schindler“ pendelte zwischen Philadelphia und Tampico. Wer wegen der desaströsen Zustände an Bord nicht krank wurde, schlug sich krankenhausreif. Ungesichert umherfliegende Ölfässer, verrutschte Ladungen, ein Leck im Tank waren ebenso an der Tagesordnung wie wüste Schlägereien, Besäufnisse, Glücksspiel, Bestechung und Meuterei. Wer beim Pokern gewonnen oder durch Gaunerei an Geld gekommen war, beglückte die Damen in den billigen Hafenbordellen, das restliche Kleingeld investierte man in Rum, Schnaps und Tabak. Und in jedem Hafen, schreibt der Zahlmeister, wurden reihenweise kranke gegen frische Matrosen eingetauscht. In seinem Tagebuch notiert er:

"Ankunft erste Reise in Tampico am 10ten Ocktober, 'Sensation' Großer Stierkampf in der Messe: II. III. IV. Masch. Koch + Messraum Steward; wobei der IIte Maschinist Herr Tensch: durch den Lagerhalter eine väterliche Abreibung bekam, die ihm nach seines Erachtens eine Gehirnerschütterung einbrachte ect. [...] schwere Stürme, wobei die ungelöschten Oelfaesser im Bunker umher rollten, verschiedene liefen halbleer, eines brach in sich zusammen + lief ganz aus [...]. Reise III. Tampico am 21ten Dez. Maschinist + Assi - im Angetrunkenen Zustande den IIten Offizier Herr Mayer vertrümmt [...] und Herr Meyer sah aus wie ein Ochse der aus einem Schlachthause kommt [...] am selbigen Tag verholte sich Herr Klebe IIter Offizier mit seinem Freunde nach einem Bordell, wo die 20 Dollars Gold ins rollen gebracht wurden, die wie sich heraus stellte: Schmiergelder waren [...]. Am 7ten Oktober in Galveston desertierten die 2 Leichtmatrosen [...]. Am 12ten April wurde der IIte Offizier von Herrn Bapt. Maash von der Brücke geordert, wegen Trunkenheit, vom 3ten Maschinisten die Nacht zuvor in seiner Kabine erhielt er eine Wucht, die am nächsten Tag wegen Beleidigung des Lagerhalters Boock aufgefrischt wurde [...]. Selbigen Tages dessertirten der Pantry Junge Koepke + der Maschinenreiniger Braaten. Am Abend war grosses Bordfest in der Löwenhöhle; Der IIte Offz Mayer tanzte an Deck umher mit einem Totschläger [...]".

Der 110 Meter lange Öltanker war 1901 in England für die Bear Creek Oil & Shipping Company gebaut worden und kam 1927 in den Besitz der Hamburger Reederei von Julius Schindler, der das Schiff nach seiner Frau Irma benannte. Bis 1931 steuerte die „Irma Schindler“ Philadelphia und Tampico, manchmal auch Hamburg, Manchester und Brunswick an. Dann ging sie in den Besitz der Hamburger Firma Leth & Co. über, bevor sie 1944 vor Pauillac versenkt wurde. Julius Schindler war ein angesehener Hamburger Mäzen und Kaufmann. Ihm gehörten seit 1901 die Oelwerke und die Tankschiffreederei Julius Schindler; für die Hamburgische Wissenschaftliche Stiftung spendete er 35.000 Reichsmark. Im Herbst 1931 musste das Ehepaar Schindler mit den Kindern aus Deutschland emigrieren; sie wurden liechtensteinische Staatsbürger und gingen über die Schweiz zunächst nach Frankreich, von dort 1939 weiter über Kanada in die USA. 1938/39 wurden die Oelwerke und die Reederei von den Nazis "arisiert", Schindler starb 1941 in New York. Zum Gedenken an ihre Eltern stifteten die Kinder die "Julius and Irma Schindler Memorial Scholarship" an der Universität Haifa.

Was bleibt von „Irma Schindler“? Die „Noticen während der Reisen Tampico - Philadelphia von Ockt. 29 – Ockt. 30“, vom Zahlmeister in einem unscheinbaren Heft festgehalten, lesen sich wie ein Roman, brutaler als die „Meuterei auf der Bounty“, besser als „Fluch der Karibik“. Die einfühlsame Legende vom Ozeanpianisten erzählt dagegen bei aller poetischer Schönheit nicht vom wirklichen Leben an Deck – das fand zwischen den Heftdeckeln dieses und anderer Schiffstagebücher statt. Captain Jack Johnny Depp Sparrow hat die Karibik überlebt, ob er auch die „Irma Schindler“ überstanden hätte?

Schiffstagebuch - Anonymus, Noticen während der Reisen Tampico - Philadelphia von Ockt. 29 - Ockto 30. T. S. "Irma Schindler". Hamburg, Tampico, Philadelphia u.a., 1929-1930. 8°. 21 Seiten in Tinte, 41 weiße Blatt. Schwarzes Hlwd.  700 €


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